The Japanese Wife
von Aparna Sen, Indien: 2007-2010 (english version is here)
zur Erinnerung an Kei Kumai (1930 - 2007)
Durch eine eigenartige Vermarktungsstrategie seines Weltvertriebs konnte ich The Japanese Wife bereits wenige Wochen nach seiner
Uraufführung auf einer DVD sehen.
Es gibt Filme, die kann man nur mit sehr viel Glück auf einer großen Kinoleinwand sehen. Das wäre gerade bei Aparna Sens Filmen
wie Mr. and Mrs. Iyer oder The Japanese Wife besonders wichtig, denn beide Filme scheinen mir geradezu für die große Leinwand und damit auch für das kollektive Kinoerlebnis
gemacht zu sein. In solchen Situationen des Mangels nehme ich einen Trick zu Hilfe. Ich träume mich hinein in die Architektur von wunderschönen Filmtheatern, von denen viele nicht mehr existieren
oder zweckentfremdet wurden. Dann stelle ich mir vor, wie ein Film wie The Japanese Wife auf einer großen Leinwand wirken muss.
Man kann die späten Filme von Aparna Sen seit Mr. and Mrs. Iyer allein schon als wunderbar erzählte Kinogeschichten
lieben. Beim mehrmaligen Sehen erscheinen mir diese Filme allerdings auch wie dicht gewebteNetze aus vielen filmischen Ideen und wechselnden Varianten von Erzählperspektiven. Neben dem, wovon
diese Filme erzählen, weisen sie manchmal auch auf die Filmwahrnehmung selbst hin. Rahuls Boses und Konkona Sen Sharmas Charaktere in Mr. and Mrs. Iyer sind einerseits fiktive Figuren in
einer fiktiven Erzählung. Da die Situation ihnen aber ein Rollenspiel (als fiktives Paar) aufdrängt, werden beide gleichzeitig auch als Darsteller sichtbar, die anderen etwas vorspielen. Bose als
Fotograf Raja ist jemand, der der Dinge oder Situationen, die er wahrnimmt, aufzeichnet. Durch seinen Beruf zum einen, aber auch dadurch, dass er zu einer gewissen Passivität verurteilt ist,
erscheint mir gerade diese Figur als ein Mittler zwischen Filmemacherin und Zuschauer.
Rahul Bose als Snehamoy, ein introvertierter Mathematiklehrer in einem Dorf inmitten der eindrucksvollen Flusslandschaft der
Sunderbans (einer Region in der Nähe der Bucht von Bengalen), hat eine ähnliche Doppelfunktion: als eine in der Fiktion handelnde Figur, aber auch als jemand, der sich durch Briefe und
Fotografien ein Bild von einer Person macht, der er physisch genau so wenig begegnet wie der Zuschauer den Figuren eines Films. Snehamoy ist jemand, dem etwas erzählt wird, die Geschichte eines
anderen Lebens, die er mit eigenen Reflexionen und Erfahrungen vergleicht.
Der offensichtliche Erzählstrang handelt von der Beziehung zwischen dem Bengalen Snehamoy und der Japanerin Miyage. Aus
finanziellen und familiären Gründen können sie sich nicht persönlich begegnen. Ihre Beziehung nährt sich ausschließlich durch einen regen Austausch von Briefen, Fotografien, Geschenken und
gelegentlichen Telefonanrufen.
Schließlich wird aus der Brieffreundschaft ihrer Jugend sogar eine Ehe. Sie schickt ihm einen Ring, indem ihr Name eingraviert
ist; er sendet ihr Armreifen und rote Farbe für ihren Scheitel, das hinduistische Merkmal einer verheirateten Frau.
Ähnlich wie in früheren Filmen von Aparna Sen wie Yugant (What the Sea said, 1995) oder Paromitar Ek Din (Haus
der Erinnerungen, 2000) arbeitet die Regisseurin hier am Anfang mit wechselnden zeitlichen Erzählebenen.
So ist in der ersten Einstellung Snehamoy zu sehen, wie er mit Miyage telefoniert. Es ist das letzte Telefongespräch zwischen den
beiden. Es gibt Probleme in der Verständigung (sie reden Englisch), und schliesslich bricht die Leitung ab. Das ist zugleich die Einleitung in ein musikalisch immer wiederkehrendes Motiv, das mal
komisch und mal traurig variiert wird. Mich erinnert das besonders an das Motiv des betrunkenen Vaters in Ozus letztem Film Samma no Aji (Ein Herbstnachmittag), das einmal sehr humorvoll
und am Schluss unendlich elegisch variiert wird. Und überhaupt arbeitet hier Aparna Sen mit verschiedenen immer wiederkehrenden Motiven, die immer wieder neu variiert werden.
Dann sieht man, wie ein sehr großes Paket seinen Weg von einem Containerbahnhof über eine Fähre und schliesslich mit einer
Fahrradrikscha zu dem Haus findet, in dem Snehamoy lebt. Für eine kurze Zeit springt der Film zwischen Vergangenheit (Snehamoy und Miyage rezitieren frühe Briefe die kurze Szenen begleiten)
und der Gegenwart des allmählich zu Snehamoy gelangenden Paketes. Das Paket ist ein Geschenk Miyages an Snehamoy zum 15. Hochzeitstag.
Dann springt der Film erneut in die Vergangenheit, und aus kurzen Szenen und rezitierten Briefen werden sowohl diese langjährige
Beziehung vorgestellt als auch einige Personen, die für den Film wichtig sein werden. Snehamoy ist seit seiner Kindheit Waise. Seine Eltern sind bei einer Flutkatastrophe ums Leben gekommen.
Seitdem lebt er bei seiner Tante, die er liebevoll Mashi nennt. Und Mashi (Moushumi Chatterjee) ist alleinstehend und kinderlos, vielleicht verwitwet. Noch während dieser Rückblende wird eine
weitere Person eingeführt, die dann wieder verschwindet, um später noch einmal eine ganz gewichtige Rolle zu spielen. Es ist die junge Sandhya (Raima Sen), die Tochter von Mashis bester Freundin
und ihr Patenkind. Mashi würde die junge Frau gerne mit Snehamoy verheiraten, doch der ist bereits mit Miyage eine Ehe eingegangen.
Von Snehamoy sehen und erfahren wir mehr, als seine Briefe erzählen, während Miyage bis auf eine Szene fast nur durch die
rezitierten Briefe und kurzen, in Japan spielenden Szenen erfahrbar wird. Sie ist Halbwaise und lebt bei ihrer gebrechlichen Mutter. Sie ist ebenso introvertiert wie Snehamoy. So erscheinen die
Szenen, in denen Miyage vorkommt, auch wie Bilder, die sich Snehamoy von Miyage macht. Das Japan Miyages behält etwas Entrücktes. Manchmal sieht man Snehamoy am Fluss oder an dem Ort sitzen, wo
die Leichen seiner Eltern eingeäschert wurden, während aus dem Off ein Brief von ihm rezitiert wird. Man spürt regelrecht, wie er die von Miyages beschriebenen Erfahrungen mit eigenen vergleicht.
Dabei blickt er oft in die weite Landschaft, wie eine Person in den Filmen von John Ford oder eine Figur in den Bildern von Caspar David Friedrich. Dass er mit seinem Bild von Miyage nicht immer
richtig liegt, wird zu einer Quelle von komischen, tragikomischen und schließlich tragischen Situationen.
Wenn der Film schliesslich in die gegenwärtige Zeit zurückkehrt, sind alle wichtigen Personen eingeführt. Zunächst gibt es eine
Reihe von Episoden, die für einen Film von Aparna Sen ungewöhnlich komisch sind. Und Snehamoys Briefehe mit einer weit entfernten Ausländerin sorgt auch für einigen Spott im Dorf und liebevolle
Neckereien seiner Tante.
Etwa im zweiten Drittel des Films gibt es einen Wettbewerb im Drachenfliegen, ein Moment, der sich von allen Erzählsträngen abhebt
und so etwas wie eine kleine Pause in der Erzählung ist. Die Geschicklichkeit der Männer, die mit einem Gewirr von Fäden ihre leichten Papierdrachen zu steuern versuchen, ist dabei auch ein sehr
schönes Bild für Aparna Sens sicheres Variieren von formalen und erzählerischen Elementen.
Inzwischen ist auch Sandhya in die Filmerzählung zurückgekehrt. Sie ist inzwischen Witwe und hat einen 9-jährigen Sohn, der Paltu
heißt. Von den Verwandten ihres verstorbenen Mannes will sich niemand um eine Witwe mit Kind kümmern. Sie findet Unterschlupf bei Mashi. Mittlerweile besteht die Personenkonstellation des Films
aus Witwen und Waisen. Die Figuren sind gleichzeitig das, was sie sind, aber auch das, was die eine Figur jeweils in der anderen sieht. Das gilt übrigens auch für Snehamoys Gefühle für Miyage.
Das Gefühl ist echt, doch die geographische Distanz zwischen ihnen lässt einen grossen Freiraum für Projektion. Der Film erzählt vom Leben der Figuren wie auch von deren Sehnsucht nach einem
nicht gelebten Leben. Mashi hat in Sandhya eine imaginäre Tochter, in Snehamoy und in Paltu ein imaginäres Kind beziehungsweise Enkelkind, während die kinderlose Miyage für sie irgendwie abstrakt
bleibt. 36 Chowringhee Lane (1981), Paroma (1985), Sati (1989) Yugant (What the Sea said) und 15 Park Avenue (2005) haben auf unterschiedliche Weise
von einsamen und nahezu hoffnungslos isolierten Frauen erzählt. Was die einsamen Figuren in Mr. and Mrs. Iyer und The Japanese Wife weniger hoffnungslos isoliert erscheinen
lässt als in Aparna Sens anderen, meistens tieftraurigen Filmen, ist ihre Fähigkeit, sich ein glücklicheres Leben in einer Gemeinschaft mit anderen zumindest vorzustellen. Natürlich erleben
Meenakshi und Raja in Mr. and Mrs. Iyer nicht wirklich eine Romanze, doch dürfen sie davon träumen, was sie in ihrer Wirklichkeit nicht leben können. Mögen die Figuren in The
Japanese Wife wie beispielsweise Sandhya Außenseiter sein, unter Mashis Obhut dürfen sie für einige Zeit Geborgenheit und Zuwendung erfahren. Es gibt sogar eine Andeutung, dass sich
Sandhya in Snehamoy verliebt, die aber nie ausgesprochen wird. Mashis Fürsorge für Sandhya ist zugleich eine Spiegelung ihres eigenen Schicksals. Das gilt ebenso für Snehamoys Zärtlichkeit dem
Halbwaisen Paltu gegenüber. Hier korrespondieren wieder - wie in der Busszene von Mr. and Mrs. Iyer - verschiedene Lebensstufen von Menschenleben, durch die diese Figuren ihre
Beziehungen zueinander definieren.
Mittlerweile erfährt Snehamoy, dass Miyage erkrankt ist und ihre Mutter verloren hat. Aus dieser Situation ergeben sich wieder
Episoden, die zur Quelle von tragikomischen Episoden werden. Zuerst konsultiert Snehamoy einen Ayurveda-Heilpraktiker, einen Homöopathen und schließlich einen befreundeten Apotheker, um
Ferndiagnosen für Miyage erstellen zu lassen oder Medizin zu besorgen. Sein absurder Eifer nach Heilung, ohne die genaue Krankheit zu kennen, und das über die Distanz zwischen Miyage und ihm, ist
rührend und manchmal komisch. Es gibt wieder einen der Telefonanrufe, der ein letztes Mal auf komische Weise von der Schwierigkeit erzählt, die beide mit fernmündlicher Verständigung
haben.
Parallel dazu versucht Snehamoy, auch noch dieser familienähnlichen Beziehung zu Sandhya und dem Jungen gerecht zu werden, für die
er sich verantwortlich fühlt. Die Sehnsüchte der Figuren lassen Phantombildern gleich Projektionen von Familienkonstellationen entstehen.
Als Snehamoy dann erfährt, dass Miyage an Krebs leidet, gerät das Tragikomische aus der Balance. Erst scheint der Humor zu
schwinden, wie das Sonnenlicht verdeckt durch Wolken, dann verliert er sich gänzlich.
Unvergesslich bleibt mir Snehamoys Reise nach Kolkata zu einem Krebs- spezialisten, den ihm ein Freund empfohlen hat. Als er
dem Arzt die medizinischen Unterlagen von Miyage zeigt und der Arzt besorgt fragt, wo Miyage sei, wird sich Snehamoy plötzlich der Abwesenheit seiner Frau bewusst und vielleicht auch der
Aussichtslosigkeit, ihr von hier aus zu helfen. Und plötzlich verändert sich Rahul Boses Gesicht wie das Wetter in diesem Film (ein gewaltiges Unwetter braut sich zusammen). Jetzt zeigt
sein Gesicht einen Anflug von Resignation. Es gibt noch einmal ein Telefon- gespräch mit Miyage. Ausgerechnet eine ähnliche Situation, über die ich vorher laut lachen musste, wird zu einem der
ergreifendsten Momente des Films. Während er telefoniert, beginnt das Unwetter schlimmer zu werden. Es blitzt, donnert und regnet. Das vergebliche Bemühen, in einer Sprache zu sprechen, die man
nur unzureichend beherrscht, und die gewaltige Anstrengung, über weite Distanzen hinaus eine Beziehung aufrechtzu- erhalten, werden nun deutlich. Die Art, wie Boses Stimme mit den Tränen kämpft,
lässt seine Figur Snehamoy auf unheimliche Weise wieder zu dem Kind werden, das bei einem ähnlichen Unwetter seine Eltern verloren hat. Wenn dann neuerlich die Leitung abbricht, wird Snehamoy zu
einem Verwandten der einsamen Figuren, die fast alle Filme Aparna Sens bevölkern. Der Heimweg inmitten des Unwetters lässt Snehamoy wie eine verlorene Seele erscheinen. Zu Hause angekommen,
stellt der Arzt eine Lungen- entzündung fest. Der Fährdienst ist eingestellt und Medizin kann in diesem Unwetter nicht herbeigeschafft werden. Wie ein wehrloses Kind liegt er im Bett. Sandhya
wacht bei ihm und kühlt ihm die fieberheisse Stirn. Er ruft im Fieberwahn nach Miyage, während sie ihn pflegt. Deutlich ist Sandhya als eine weitere tragische Figur dieses Films erkennbar. Der
eine stirbt und die, die zurückbleibt, ist bereits im Bewusstsein des Sterbenden nicht mehr vorhanden.
Ein Schnitt und wir sehen Paltu auf der Veranda spielen. Das Wetter hat sich aufgeklärt, ist freundlicher geworden und verheißt
Hoffnung, die später enttäuscht wird. Dann ein weiterer Schnitt zu dem Zimmer Snehamoys. Wir sehen Mashi auf dem leeren Bett Snehamoys weinen. Eine andere Frau sitzt im Raum links neben dem
Eingang, eine andere tröstet die trauernde Mashi. Sandhya sitzt mit traurigem und erschöpftem Gesichtsausdruck im Türrahmen, der nach draussen führt. Vor dem Eingang sind zwei weitere Frauen,
Freundinnen oder Nachbarinnen Mashis zu sehen. Snehamoys Tod hat diese ohnehin zerbrechliche familienähnliche Gemeinschaft wieder in einsame Individuen aufgelöst. Allein diese eine Einstellung
ist für mich ein eindrucksvolles Beispiel, wie Aparna Sen in Bildern denkt. Das ist ein Bild, das mich unter anderem auch wieder an John Ford denken lässt.
Da der Film vor allem von Witwen und Waisen erzählt, gehört der Epilog zwei Witwen. Wir sehen Miyage, deren Kopf kahlgeschoren
ist, in der Tradition von Hindu-Witwen, die sich stark mit dem verstorbenen Mann verbunden gefühlt haben. Sie nimmt den Weg, den am Anfang das große Paket von ihr an Snehamoy genommen hat, mit
der Flussfähre und schließlich auf einer Fahrradrikscha zu dem Haus, in dem Snehamoy gelebt hat. Sandhya, die andere Witwe, die bereits zum zweiten Mal jemanden verloren hat, erwartet sie. Diese
fast wortlose Begegnung der beiden Frauen lässt den Film zur Ruhe kommen. Wie die beiden Frauen das Zimmer des Toten betreten, in dem die Gegenstände, Briefe und Fotos wie kristallisierte Spuren
eines Menschenlebens erscheinen, ist ein leises Echo auf die Trauer, die beide vereint. Da ist auch eine unausgesprochene Solidarität, ähnlich wie die zwischen der jungen Frau Paromita und
der sterbenden Sarnaka in Aparna Sens Paromitar Ek Din.
Was soll ich sonst noch über den Film sagen, der mir neben Mr. and Mrs. Iyer der liebste von Aparna Sen ist, ohne mich an
ein schnelles und billiges Superlativ zu vergreifen?
Ich weiß nur, dass ich mit und in diesem Film für einige Zeit gelebt habe.
Rüdiger Tomczak ( Erstveröffentlichung shomingeki Nr. 23, März 2011)
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