Als ich die Filme von Yasujiro Ozu vor 20 Jahren zum ersten Mal entdeckt hatte, lebte ich eine Art Doppelleben. Einerseits meine Arbeit in einer Fabrik im Ruhrgebiet, andererseits meine schon früh entwickelte Begeisterung für das Kino. Ich bin als Kind einer typischen Bergarbeiterfamilie des Ruhrgebiets aufgewachsen. Bis dahin war Kino immer eine krasse Gegenwelt zu meinem Alltag. Als ich die Filme von Ozu kennenlernte, hatte ich zum ersten Mal für mich ein Kino entdeckt, das sich gerade dem zuwandte, woher ich komme, und dem ich bis dahin im Kino immer entkommen wollte. Ästhetisch haben mich André Bazins Texte zum Realismus des Kinos vorbereitet, aber am Anfang waren die Filme von Ozu für mich vor allem ein Wiedererkennen der Welt, in der ich lebte. Sehr schnell wurden sie mir vertraut, und sehr schnell übten seine Filme einen großen Einfluß auf mein Leben aus. Niemals zuvor hatte ich im Kino erlebt, wie sich gewaltige soziale Veränderungen auf den Einzelnen oder eine Familie auswirken; nie zuvor hatte ich Filme gesehen, die die Familie einerseits als Ort der Wärme und Geborgenheit und andererseits als Spiegelbild gesellschaftlicher Zwänge so auf den Punkt brachten.
In den 20 Jahren habe ich versucht herauszufinden, was alles in den Filmen steckt, und dabei erscheinen sie mir immer reicher und vielfältiger. Ich habe alles verschlungen, was ich über Ozu finden konnte. Ich habe erfahren, daß Ozu mit seinen Zeitgenossen Hiroshi Shimizu, Mikio Naruse oder Heinosuke Gosho bereits in den frühen dreißiger Jahren innerhalb der kommerziellen Filmindustrie einen für das frühe japanische Kino neuartigen Realismus entworfen hatte. Sie nannten es den Shomingeki-Film, Filme über den Alltag japanischer Familien des Mittelstands, Arbeiter, der verarmten Intelligenz, manchmal auch des durch die Wirtschaftskrise verelendeten Proletariats wie in den Filmen Dekigokoro (Eine Laune, 1933), Tokyo no yado (Ein Gasthaus in Tokio, 1935) oder Hitori Musuko (Der einzige Sohn, 1936).
Nie war das Kino so nah am Leben einfacher Menschen. Das war nicht nur eine Gegenbewegung zum japanischen Film, der in seiner Frühzeit oft in den Stereotypen von Kabuki-Verfilmungen gefangen war, sondern auch eine zum aufkommenden japanischen Faschismus. Ozus Filme zwischen 1931 und 1936 zeigen ein japanisches Volk, das sich zur Verelendung hinbewegt. Das erscheint als Kontrast zu dem, was wir wissen von der einstigen militärischen Übermacht Japans in Asien. Man sieht in diesen Filmen diejenigen, die den Preis für den japanischen Militarismus zahlen, und bekommt bereits eine Ahnung von dem, wie sich die Unterdrückung des eigenen Volkes im Terror gegen die Völker der okkupierten Länder fortsetzen wird.
Nach einigen Gangsterfilmen, Melodramen und vielen Nonsens-Komödien nach amerikanischem Vorbild begann Ozu mit seinen ersten Alltagsdramen. Bis zu seinem Tod dokumentieren diese Filme die Veränderungen im japanischen Alltag mit seinen Widersprüchen zwischen Tradition und Verwestlichung. Man sieht es an der Kleidung, an der Architektur, an vielen kleinen Details. Und auch in den Filmen nach dem Krieg zeigt er gesellschaftliche Hierarchien, egal ob in der Familie, zwischen Mann und Frau, Kind und Eltern oder in den Firmen, in denen die Menschen arbeiten, mit einer Genauigkeit, die mich auch heute noch erstaunt.
Während der Berlinale-Werkschau habe ich mir wieder einen meiner Lieblingsfilme angesehen: Bakushu (Weizenherbst) von 1951. Der erscheint mir in seiner dezentralen, episodenhaften Erzählung als einer der formal radikalsten Filme Ozus. Dabei ist es ein warmer Film, der seine Figuren mit liebevollem Humor zeichnet. Es wird hier nicht eine Geschichte erzählt, sondern der Film scheint aus einem ganzen Universum von möglichen Geschichten zu bestehen. Da vergesse ich manchmal, daß es hier um die Auflösung einer Familie in Japan geht. Manchmal blickt jemand in den Himmel, dessen Wolken den Blick ins offene Universum verdecken. Während des Films habe ich mehr gelacht als geweint. Doch über diesen wunderbaren Szenen liegt eine seltsame Stimmung der Vergänglichkeit, so wie sie einen überkommt beim Aufschlagen eines alten Fotoalbums. Und während ich noch ganz gebannt auf die letzten Bilder von der Familie vor ihrer Trennung schaue oder mich über die Kapriolen eines Kindes amüsiere, erscheint mir der Film wie das auf zwei Stunden komprimierte Gedächtnis eines Menschenlebens in einem zerbrechlichen Körper, der sterben wird – und mit ihm die Erinnerung.
Auch nach 20 Jahren sind für mich die Filme von Yasujiro Ozu immer noch Wunder.
zuerst veröffentlicht in Scheinschlag 2/2003